Geschichte vom Fenriswolf

Jeder möchte eine Geschichte erzählen und mit seinen Taten prahlen. Einer übertrifft dabei den anderen, doch als Loki das Wort ergreift, wird es still im Saal. Denn er weiß von einer Trollfrau zu berichten, mit der er sich den ganzen Frühling über herumgetrieben hat. Drei Kinder hat sie ihm geboren.

"Das erste Kind ist ein Wolf"erzählt er. "Das zweite eine Schlange, und das dritte ein Mädchen. Sie ist weiß auf der rechten und blauschwarz auf der linken Seite." Die zuhörer staunten und murmelten durcheinander. Wenige wollten der geschichte keinen glauben schenken andere waren besorgt. das gemurmel im saal wurde lauter und lauter.

Viele haben das Gefühl, daß dies ein böses Zeichen ist. Aber Loki lacht nur. "Wer von uns hat sich wohl noch nie mit den Trollfrauen eingelassen?" fragt er. "Wer hat keine Kinder in Jotunheim?". Aber mit seinen Späßen kann er die beklommene Stimmung nicht vertreiben. Odin verlangt, daß er seine drei Kinder nach Asgard bringt, damit die Asen sehen können, was es mit ihnen auf sich hat.

Noch in derselben Nacht reitet eine bewaffnete Schar von Asen über die Regenbogenbrücke gen Osten. Thor und Tyr sind mit von der Partie, und Loki weist ihnen den Weg. Die Asen wissen ganz genau, daß die Trolle ihnen die drei Kinder Lokis nicht aus freien Stücken überlassen werden. Also gehen sie gleich zum Angriff über. Die Riesen verteidigen sich so gut sie können, aber gegen Thors Hammer kommen sie nicht auf. Bald haben die Asen die Kinder in ihre Gewalt gebracht und bringen sie mit nach Asgard.

Es sind sehr sonderbare Sprößlinge. Weder Riesen- noch Menschengestalt ist ihnen anzusehen. Fenris, der Wolfswelpe, ist für sein Alter entsetzlich groß. Seine Kiefern gleichen starken Eisenscheren, und seine Augen erinnern an tückische Moorlöcher. Die Schlange ist ein unheimliches, giftsprühendes Reptil. Und was das Mädchen Hel angeht - niemand hat je ein Kind mit so kaltem Gesicht und so gierigen Augen gesehen. "Sind sie nicht erstaunlich meine Kinder?" fragt Loki und lacht triumphierend.

Aber die Asen wollen seine Brut am liebsten gleich umbringen. "Deine Bankerten sind eine Schande für Asgard" sagen sie "und wer weiß, ob sie uns nicht Verderben bringen." Doch Odin einnert sie an ein altes Verpsrechen. "Habt ihr nicht alle gelobt, dass Asgard eine heilige Freistatt sein soll? Dieses Gesetz gilt für alle, die zu uns kommen, ob wir sie mögen oder nicht." - "Es muss doch Wege geben, diese drei Ungeheuer loszuwerden". murmeln die Asen.

Odin beschließt, die Nornen um Rat zu fragen... Und was sagt Urd? "Mächtigere Feinde als diese haben sich nie in Asgards Mauern eingenistet. Eines Tages werden sie sich an die Spitze aller Mächte der Finsternis stellen." - "Ich sehe Blut" sagt Werdande, die zweite der Nornen. "Das ihrige oder das meine?" fragt Odin. Darauf wollen die Seherinnen nicht antworten, doch Odin ist hartnäckig und wiederholt seine Frage. Da sagt Skuld, die dritte: "Der Fenriswolf wird dich eines Tages verschlingen" und schlägt die Augen nieder. Odin ballt die Fäuste. "Und was ist, wenn ich ihn jetzt gleich umbringe, solange er noch ein Welpe ist?" - "Niemand kann sein Schicksal ändern" flüstern die Nornen, und mehr bekommt Odin nicht aus ihnen heraus. Als er nach Asgard zurückkehrt, ist er so klug wie zuvor.

Er weiß, dass die Nornen das Leben als ein großes Gewebe betrachten. Die Schicksalsfäden aller Geschöpfe sind mit denen aller anderen verflochten. Odin hat großen Respekt vor allem, was sie sagen. Nie würde er ihrem Rat offen zuwiderhandeln; denn er hat gelernt mit allem, was er nicht versteht, vorsichtig umzugehen. Doch zugleich hat er die Hoffnung nocht nicht aufgegeben, daß sein Wille etwas ändern kann; er glaubt, daß es immer einen Ausweg gibt.

Deshalb schickt er Hel weit weg in die Verbannung nach Niflheim, in den hohen Norden, wo es immer dunkel, kalt und neblig ist. Dort wird sie über das Reich der Toten herrschen. Die Schlange schleudert er weit ins tiefe Weltmeer hinaus. Nur das Wolfskind soll in Asgard bleiben, damit die Asen ein Auge auf das Untier haben können. Sie lassen den Fenris wie einen wilden Hund frei in der Götterburg herumlaufen obwohl er so gefährlich ist, dass selbst sein Vater Loki sich nicht in seine Nähe wagt. Der einzige, der kühn genug ist, den Fenris zu füttern ist Tyr.

Frigg, Odins Frau, gefällt das nicht. "Warum schickst du ihn nicht ans Ende der Welt, wo er keinen Schaden stiften kann?" fragt sie ihn. Odin hat ihr erzählt, was die Nornen ihm anvertraut haben. Nun schüttelt er den Kopf und antwortet ihr: "Wenn dieser Wolf ein Teil meines Schicksals ist, dann nützt es nichts, ihn fernzuhalten. Lieber habe ich ihn in der Nähe. Dann sehe ich, was er tut und lässt."

Der Winter zieht sich hin. Draußen auf der großen Wiese streift der Fenriswolf unter den Schneewehen umher.... Unterdessen ist der Fenriswolf so groß geworden,dass es gefährlich wäre, ihn frei herumlaufen zu lassen. Auch hat er gelernt zu sprechen. Jetzt lacht er die Götter aus. Weil die Asen es fast nicht mehr wagen, ohne Wachen und unbewaffnet aus dem Haus zu gehen, verhöhnt er sie. Zweimal haben die Asen gewaltige Ketten geschmiedet. Beim erstenmal haben sie so getan, als wollten sie nur die Kräfte des Ungeheuers auf die Probe stellen

Der Fenris ließ sich festketten, ohne sich zu sträuben. Aber kaum war er gefesselt, da brach er seine Ketten entzwei.Beim zweiten Versuch schmiedeten sie eine viel stärkere Kette. "Wenn du die sprengst, wirst du in der ganzen Welt berühmt werden" sagten sie, um ihm zu schmeicheln, und so liess er es sich gefallen, daß sie ihn an Haupt und Gliedern fesselten. Doch dann stemmte er sich mit beiden Pranken gegen den Boden und riss sich los, so dass die schweren Eisenglieder durch die Luft wirbelten.

Da ist guter Rat teuer. In ganz Asgard gibt es keinen, der eine noch stärkere Kette schmieden könnte. Und dabei ist der Wolf noch gar nicht ausgewachsen! Die Asen sehen nur einen Ausweg. Sie müssen noch einmal Hilfe bei den Unterirdischen suchen.

So schickt Odin einen von Freyas Dienern zu den Zwergen. Die Zwerge freuen sich über Odins Geschenke und über die Zeichen seiner Freundschaft. "Wir helfen euch gerne" sagen sie und fangen sogleich an, eine ganz besondere Kette zu schmieden.

Die Asen sind von dem Werk der Zwerge sehr angetan. Sie locken den Wolf zu einer Insel im See und zeigen ihm die Kette. "Sie ist stärker als sie aussieht" sagen sie. "Wir haben versucht, sie mit den Händen zu zerreissen, aber keiner von uns war stark genug dafür. Das kannst nur du schaffen." Aber der Fenriswolf ist misstrauisch und will sich auf keinen Versuch einlassen. "So ein dünnes Band" sagt er. "

Das zu sprengen, würde mir kaum viel Ruhm einbringen. Vielleicht steckt doch eine List dahinter, sonst hättet ihr mich wohl nicht hierhergelockt. Aber das lasse ich nicht mit mir machen" - "Früher warst du nicht so ängstlich" antworten die Asen. "Die stärksten Eisenketten hast du wie Strohhalme zerfetzt, und jetzt schreckst du vor einer solchen Schnur zurück? Übrigens sollte es dir nicht gelingen, die Ketten zu sprengen, so bräuchten wir dich nicht mehr zu fürchten. Dann würden wir dich augenblicklich lösen."

Da lacht der Wolf. "Das soll ich euch glauben?" ruft er "wenn ich mich wirklich nicht von diesem lächerlichen Band befreien könnte, dann wärt ihr sicherlich die letzten, die mich freiliessen. Aber sei´s drum. Niemand soll mir nachsagen, daß es mir an Mut fehlt. Nur verlange ich, daß einer von euch seine Hand in mein Maul steckt, als Pfand dafür dass ihr keinen Hinterhalt im Sinn habt."

Jetzt stecken die Asen in der Zwickmühle. Sie sehen einander an, und keiner zeigt große Lust, die Hand in den Rachen des Wolfes zu stecken. Odin nicht, und auch Thor nicht. Am Ende aber tritt Tyr hervor, Er ist nicht der stärkste der Asen, aber keiner ist so tollkühn wie er. Er hat sich in vielen Kämpfen bewährt, und er weiß, dass man etwas wagen muss, wenn man siegen will.
Er legt die Hand in den Wolfsrachen und der Fenris läßt sich fesseln. Die Asen lachen, denn je heftiger das Ungeheuer zappelt und stößt, desto strammer schlingt sich das Band um seine Glieder. Er begreift,dass er gefangen ist und das die Asen ihn nie wieder befreien werden. Nur Tyr lacht nicht, denn der Wolf beißt ihm die Hand ab.

Die Asen ziehen das Ende der Kette unter einem großen Felsblock hindurch und vergraben es tief in der Erde. Darüber wälzen sie einen noch größeren Stein. Der Fenriswolf knurrt und schnappt wild um sich. Thor tritt hervor und stößt sein Schwert in den Schlund des Untiers, so daß der Griff gegen den unteren, die Spitze aber gegen den oberen Gaumen stößt. Gegen diese Maulsperre kann der Wolf nichts ausrichten. Er legt sich nieder, doch heult er furchtbar und der Schaum tritt ihm aus den Lefzen.

Noch einmal sucht Odin die Nornen auf. "Hab ich den Kampf gewonnen?" fragt er sie. Doch die drei Nornen schütteln den Kopf. "Alles geschieht, wie es geschehen muss" antwortet Urd. "Wir haben den Wolf doch gebunden" wendet Odin ein. "Eines Tages wird er sich befreien" sagt Werdande, und Skuld fügt hinzu "Alles ist im voraus bestimmt."

Das Meer kocht und brodelt. Ein schreckliches Haupt, groß wie ein Berg, erhebt sich langsam aus den Wellen. Das schuppige Ungeheuer streckt seinen Hals und sperrt schnaubend das Maul auf. Ein saurer Hauch dringt wie eine Windfahne aus seinem Rachen. Alles Lebendige ergreift die Flucht, die Fische im Wasser und die Vögel unter dem Himmel. Es ist die Mitgardschlange, das Untier, das sich um die ganze Welt ringelt, und sich in den eigenen Schwanz beißt. Den riesenhaften Kopf wiegt sie spähend, lauschend, witternd hin und her. Langsam, aber zielsicher bewegt er sich auf einen fernen Schimmer zu. Es ist die Burg des Seekönigs, die dort glitzert und leuchtet. Hier herrscht Ägir, der mächtigste unter den Meeresriesen. Heute Abend wird dort ein Fest gefeiert. Die Schlange zischt. Sie weiß, dass sich dort hinter den festen Balken des Hauses ihre schlimmsten Feinde versammelt haben. Denn Ägir ist ein Freund der Götter. Jedes Jahr lädt er sie zu einem großen Festschmaus ein. Hier sitzen die Asen lachend und ausgelassen unter den Riesen des Meeres und dessen Frauen. Die großen Nüstern der Schlange zittern vor Gier. Alle sind da, denkt sie. Nur einer fehlt. Alle warten auf Thor. Der Donnergott kämpft hoch im Norden mit den Trollen. Bald wird auch er kommen und nach dem Trinkhorn greifen, wenn er die Riesenschädel in den Staub geworfen hat. Die Mitgardschlange züngelt vor Ungeduld. Sie kann es nicht erwarten, Ägirs Burg über den Haufen zu werfen, jeden Balken zu zermalmen und sich über Haus und Hof zu wälzen.
Aber dann fällt ihr ein, was ihr Hel, ihre Schwester, die Königin des Totenreichs eingeschärft hat. > Warte <, hat sie ihr geraten. > Warte bis ich dir ein Zeichen gebe! Dann ist uns der Sieg sicher. < - > Was für ein Zeichen? < wollte sie wissen.> Ich habe einen kohlschwarzen Hahn <, flüstert Hel. > Wenn du ihn krähen hörst, dann weißt du das der Anfang vom Ende gekommen ist. Dann werden die Sterne erlöschen und die Berge erzittern. Die Bäume werden entwurzelt, und alles, was fest ist, verliert seinen Halt. Dann erst ist deine Stunde gekommen. <Die Mitgardschlange schließt die Augen und seufzt. Sie windet sich heftig und versinkt im Meer. Es gluckst und dampft, und ein mächtiger, saugender Wirbel bleibt zurück. Die Schlange ist für diesmal verschwunden. Keiner in Ägirs Burg ahnt, was geschehen ist. Asen und Seeriesen spaßen miteinander. Auf dem tangbedeckten Boden wird fröhlich getanzt.
Nicht Kerzen und brennende Fackeln erleuchten den Saal, sondern schimmerndes Gold. Es hängt in ganzen Klumpen von der Decke, es schmückt die Wände und liegt in glitzernden Haufen auf den Tischen. Die Diener laufen umher und kümmern sich darum, dass es keinem an Essen mangelt. Das Bier aber schenkt sich selber ein. Ein gewaltiger Kessel schwebt über den Tischen hin und her und sorgt dafür, dass kein Trinkhorn leer bleibt. Die neun Töchter des Seekönigs singen und tanzen für die Gäste. Die Asen schlagen den Takt dazu und singen mit. Nur Odin sitzt still da und sagt kein Wort. Er rührt das Essen nicht an und trinkt nur Wein. Alle wissen, dass es nicht klug wäre, ihn zu stören, wenn er sinnt und grübelt. Er hat die Augen geschlossen und denkt an die Welt.
Die Welt, denkt er, gleicht einer Scheibe aus Holz mit kräftigen Jahresringen. In der Mitte wohnen die Asen, im nächsten Ring leben die Menschen, und ganz draußen am Rand hausen die Trolle. Dann wieder kommt ihm die Welt wie eine Eierschale vor, die auf dem großen wilden Meer schwimmt, oder wie eine Daune die in der Luft hierher und dorthin tanzt, die so lange in der Schwebe bleibt, wie der Atem der Götter reicht. So verletzlich ist das Ganze, so leicht zu zerstören, so nahe daran zu kippen und verlorenzugehen. Er denkt an die alten Zeiten, da alles erschaffen wurde. Wie lange ist das her! Damals erschlugen er und seine Brüder den ungeheuren Riesen Ymer und erschufen aus dem Leichnam die ganze Welt.